Titelbilder der Süddeutschen Zeitung von September 2001 bis Juli 2003 über den Konflikt zwischen Israel und Palästina

Stefan Hartmann
August 2005

Vortrag von Stefan Hartmann, gehalten im Rahmen der Ausstellungseröffnung von Kathrina Rudolph:
"Titelbilder der Süddeutschen Zeitung von September 2001 bis Juli 2003 über den Konflikt zwischen Israel und Palästina". Ausstellung in der Bartholomäus-Kapelle der Basilika St. Ulrich und Afra in Augsburg im Rahmen der Veranstaltungsreihe Pax 2005 von Juni bis August 2005, kuratiert von Doris Kettner.
Wir sehen hier eine umfangreiche Folge kleinformatiger Bilder der Künstlerin Kathrina Rudolph. Das Thema der Folge ist der Konflikt zwischen Israel und Palästina, ihre Motive fand die Künstlerin auf den Titelseiten der Süddeutschen Zeitung vom September 2001 bis zum Juli 2003.

Kathrina Rudolphs Motivation bildete ein dezidiertes Erkenntnisinteresse: Die Künstlerin wollte wissen, welches `Bild` dieses Konfliktes der deutschen Öffentlichkeit durch die Pressefotos transportiert wird.
Wie sieht der Blick der Deutschen, vermittelt durch das `Auge der Kamera` aus? Dies ist, zumal vor dem Hintergrund unserer belasteten Geschichte, in der Tat eine spannende Frage.

Im Folgenden möchte ich Sie auf einige künstlerische und kunsthistorische Aspekte dieser Folge hinweisen. Zu Anfang eine banale, aber doch eminent wichtige Tatsache: Das einzelne Bild wird in Zeiten der multimedialen Informations- und Bilderflut kaum mehr bewusst wahrgenommen. Könnten Sie spontan sagen, welches Titelfoto auf der Zeitung war, die Sie heute gelesen haben? Vielleicht würden Sie das schaffen, aber es wird sich kaum jemand mehr erinnern können, welches Bild sich dort vor einer Woche befand.
Kathrina Rudolph setzt genau hier an, sammelt über zwei Jahre Titelbilder eines Presseorgans, und erstellt so eine Art Atlas-Projekt des Nahost-Konflikts, wobei sie die ephemeren, schnellkonsumierbaren Zeitungsfotos in `Hochkunst` überträgt, in das klassische Medium der Tafelmalerei.

Dadurch fordert die Künstlerin den Betrachter zu einem zweitem Blick, zu genauerem Hinsehen auf, will zur Auseinandersetzung mit dem Dargestellten anregen. Wer der Aufforderung folgt, sieht freundschaftliche Gesten von Staatsmännern neben Bildern brutaler Aggression im Alltag, von Leid und Vernichtung. Der Betrachter kann aber auch Zuversicht und Überlebenswillen, sowie kleine, rührende Randnotizen des Alltagslebens inmitten von Chaos und Zerstörung entdecken.

Die Künstlerin belässt es jedoch nicht bei der Frage nach dem Was, sondern fragt auch nach dem Wie und Weshalb, fordert zur kritischen Auseinandersetzung mit der Intention und Wirkung dieser Bilder:
  • Welchen Gesamteindruck hinterlassen sie beim Betrachter?
  • Vermitteln sie in ihrer Gesamtheit ein klar identifizierbares Täter und Opferbild?
  • Richtet sich dieses Bild an eine bestimmte Zielgruppe?
Hinter solchen Fragen steht natürlich die fundamentale Erkenntnis, dass das Medium der Fotografie, dass Zeitungsbilder nie objektiv sind. Hierbei sei noch gar nicht an die Praxis gestellter, inszenierter Aufnahmen oder an die schier unerschöpflichen Möglichkeiten digitaler Bildmanipulation gedacht. Bereits die Motivsuche des Fotografen ist von bestimmten Intentionen bestimmt, und die letztliche Auswahl erfolgt durch die Redaktionen der Presseorgane. Der Sucher der Kamera erfasst nur, was der Fotograf und seine Auftraggeber finden möchten.

Ein Blick zurück in die Geschichte des Mediums und der Bildberichtserstattung von Kriegsschauplätzen verdeutlicht dies: Kaum war die Fotografie erfunden, schon war das Auge am Tatort präsent, wurden Fotografen zu scheinbar objektiven Dokumentaristen des Krimkrieges (1853-56). Tatsächlich aber standen die dort gemachten Fotografien in der Tradition der Kriegsgenremalerei und Porträtkunst: Befehlshaber ließen sich in imposanter Haltung ablichten, das Lagerleben wurde zu einer Art romantischer Picknickausflug verklärt.
Die Bilder richteten sich nämlich noch nicht an eine breite Öffentlichkeit, es war auch keine aktuelle Berichterstattung intendiert, vielmehr wurden die Abzüge zumeist nach Kriegsende in teure Prachtalben eingelegt, und einer wohlhabenden, oft adligen Kundschaft zum Kauf angeboten. An der Erwartungshaltung dieses Käuferkreises waren die Bilder orientiert.
Nachdem 1882 die Probleme der Vervielfältigung und drucktechnischen Übertragung von Fotografien gelöst waren, konnte die Kamera zu einer der wichtigsten Waffen der modernen Gesellschaft werden. Die erste relativ `unmittelbare`, zeitnahe Bildberichterstattung eines Konfliktes entstand 1898 von der militärischen Auseinandersetzung zwischen Spanien und Amerika um Kuba. 500 Korrespondenten waren vor Ort, mehrere dutzend Fotografen anwesend.
Inzwischen war auch der einfache Soldat bildwürdig geworden, war es zu einer teilweisen Demokratisierung des Mediums gekommen. Neben die inszenierten Aufnahmen von Militärführern und Lagerromantik trat die – freilich nicht weniger artifizielle – Visualisierung der Schrecken des Krieges. Einerseits erfüllten diese Bilder erfüllten eine Erwartungshaltung, die das Medium im Laufe von 50 Jahren selbst konstituiert hatte. Nicht vergessen werden darf dabei aber die Indienstnahme der Fotografie zu Propagandazwecken – als Unterlegen wird nur der Feind gezeigt; die Sieger sind immer in den eigenen Reihen. Selbstverständlich ist auch nur der Gegner ist für grausame Massaker verantwortlich

Unter den Nationalsozialisten erreichte die multimediale Bildpropaganda einen ersten Höhepunkt; der Vietnamkrieg und der Golfkrieg sind weitere Marksteine in der visuellen Manipulation einer zunehmend globalisierten Gesellschaft.
Das fatale an den fotografischen Projektilen ist, dass sie nicht nur kurzzeitig eine breite Streuwirkung erreichen, sondern sich tief ins kollektive Gedächtnis eingraben, die Erinnerung konstituieren, und in der Rückschau das `Bild` späterer Generationen prägen. Susan Sontag sprach in einem anschaulichen Vergleich davon, dass das Gedächtnis gleichsam mit Standbildern arbeite, und deshalb die Erinnerung durch Fotografien im vergangenen Jahrhundert alle anderen Formen von Verstehen und Erinnern verdrängt habe.

Kathrina Rudolphs künstlerischer Ansatz nun geht davon aus, dass die Summe der Einzelbilder sich im Betrachter, zumeist unbewusst, zu einer Gesamtwahrnehmung der Nahost-Thematik zusammenschlössen. Diesen Prozess will die Künstlerin mit ihren Arbeiten bewusst machen, will den Rezipienten zum Nachdenken darüber bringen.

Bei ihrer Sammeltätigkeit fiel Frau Rudolph noch eine weitere Besonderheit mancher Bilder auf: die Fotografien weisen über das eigentlich Dargestellte hinaus, erinnern an Motive der christlichen Ikonographie: So gemahnt das Foto eines misshandelten Gefesselten an Märtyrerdarstellungen, wie die des Heiligen Sebastian. Archaisch anmutende Bilder von Palästinensern mit ihrer traditionellen Kopfbedeckung wecken Assoziationen mit Prophetendarstellungen. Vertriebene, fliehende Familien gemahnen an die Flucht nach Ägypten.
Damit macht die Künstlerin auf ein interessantes Phänomen aufmerksam, dass eine historische und eine funktional-intentionale Dimension aufweist: Tatsächlich ist der Nahe Osten ja auch die Landschaft der Bibel. Eine Landschaft mit bewegter Geschichte: Seit jeher treffen hier unterschiedliche Ethnien, Religionen und zum Teil fanatische religiöse Gruppierungen aufeinander; immer wieder eskalierten hier die Konflikte untereinander, aber auch mit fremden Herrschern, die die Gewalt über die Region erlangen wollten. Dass das Schlagwort von der Utopie Frieden ist wohl in kaum einer anderen Region so zutreffend!

Auf funktionaler Ebene erschließt sich die Parallele zwischen Titelbildern und christlichen Motiven sehr anschaulich anhand einer Quelle erschließen: dem so genannten Catholicon von Johannes Balbi von Genua, verfasst Ende des 13. Jahrhunderts. Darin schrieb er: Wisse, dass es drei Gründe für die Institution von Bildern in Kirchen gibt:
  1. Zur Unterweisung einfacher Menschen
  2. Um das Geheimnis der Inkarnation und das Beispiel der Heiligen im Gedächtnis einzuprägen
  3. um Empfindungen der Frömmigkeit hervorzurufen.
Während man in der Presse Bilder als Unterweisungsmittel “einfacher Menschen“ heute vielleicht unter dem Motto Bild dir deine Meinung finden wird, argumentieren auch die Titelbilder anspruchsvollerer Printmedien oft emotional, soll zunächst Interesse, aber auch Anteilnahme und Mitleid des Betrachters geweckt werden, werden Sympathie oder Antipathie mit den Dargestellten erzeugt.
Durch stetige Wiederholung setzen sich die Bilder dann im Gedächtnis fest, das Hans Belting als den Wahren Ort der Bilder bezeichnet hat.

Die intentionale Visualisierung von Leid und Triumph, von Menschlichkeit und Entrücktheit sowie deren Memorierung durch stetige Repetition sind demnach gemeinsame Grundkonstanten moderner Pressefotografie und christlicher Ikonographie.

Kathrina Rudolph verstärkt die Nähe der Titelbilder zur christlichen Ikonographie noch durch das Medium der Tafelmalerei und durch die Verwendung von Temperafarben.

Die Künstlerin verwendet Holztafeln, den sie zunächst in einem langwierigen Prozess mit einem Kreidegrund versieht, der aus bis zu 12 Schichten besteht. Auf diesem Malgrund werden die Konturen in Tusche aufgetragen, wobei anschließend die Linien zum Teil in die Oberfläche graviert werden. Farbige Akzente werden nur behutsam mit Temperafarben in einer gedeckten Palette gesetzt. Einzelne Partien, wie etwa das Tuch Arafats, werden auch mit Polimentvergoldung versehen, die Frau Rudolph dann allerdings noch mal weiß übergeht, um das Gold danach teilweise wieder freizulegen, und so einen grellen Goldton zu verhindern. Auf diese Weise entstand eine Folge beinahe monochromer Bilder, deren reduzierte Farbigkeit der Künstlerin für die Thematik angemessen schien.

Im Kontext der Christlichen Ikonographie ist der Vergleich mit der so genannten Grauen Passion von Hans Holbein dem Älteren, die wohl zwischen 1495 und 1505 entstanden ist, und die sich heute in der Staatsgalerie Stuttgart befindet, interessant.
Es handelt sich dabei um 12 Tafeln mit Szenen aus der Passion. Ursprünglich befanden sich 6 Szenen auf der Außenseite und 6 auf der Innenseite eines Altarretabels. Die Tafeln sind in “Halbgrisaille“ gemalt: An den Szenen der Außenseite sind die Gewänder in Grautönen gehalten, agieren die Personen vor einheitlich dunkelblauem Hintergrund. Die Szenen der Innenseite weisen einen dunkelgrünen Fond auf, vor dem sich die ockerfarbenen Gewänder abheben. Nur die Inkarnate und das Mobiliar sind von naturalistischer Farbigkeit.

Über die Motivation Holbeins ist viel spekuliert worden:
  • sein Werk wurde als Ausdruck zeitgenössischer Tendenzen in der Malerei gewertet;
  • das reduzierte Kolorit sei orientiert am liturgischen Gebrauch,
als Werk- bzw. Feiertagseiten des Retabels.
  • Eine weiterer Interpret meinte, Holbein hätte die Farbigkeit als der Thematik adäquates Ausdrucksmittel gewählt
Diese Interpretationen widersprechen sich nicht, jedenfalls war das reduzierte Kolorit zur Darstellung eines Passionszyklus ganz besonders geeignet. Die Auftraggeberschaft und der ursprüngliche Aufstellungsort des Retabels sind nicht bekannt, eine Position der kunsthistorischen Forschung geht aber davon aus, dass sie für diesen Ort, für die Basilika St. Ulrich und Afra geschaffen wurden. Holbeins Passionsszenen changieren zwischen drastisch und unmittelbar gezeigtem Leid und Emotionen, und dem Eindruck der Entrücktheit des Geschehens, der Distanz des Betrachters.

Betrachten wir nun abschließend die Arbeiten Kathrina Rudolphs, so stellen wir fest, dass ihre Bilder einen ganz ähnlichen Effekt haben: Wir als Rezipienten sind aufgefordert, uns mit der `Botschaft` der Bilder, die Hoffnung verheißende Versöhnungsgesten genauso zeigen wie alltägliches Leid, auseinanderzusetzen.
Zugleich wird uns deutlich, dass wir nur Außenstehende sind, die lediglich einen gefilterten, subjektiven Blick auf das Geschehen im nahen Osten werfen können.