Blicke auf Berlin. Zu einer neuen Werkserie von Kathrina Rudolph

Michael Stoeber
Mai 2022
Für die neue Werkserie von Kathrina Rudolph spielt das biografische Element eine wichtige Rolle. Das beginnt bereits beim Titel. Den verdanken die Werke der Künstlerin einer Fernsehserie. „Berlin, Berlin“ wurde als Comedy in vier Staffeln mit insgesamt 86 Folgen in den Jahren 2002 – 2005 ausgestrahlt und erfreute sich in der Familie Rudolph großer Beliebtheit. Die Abenteuer der jungen Charlotte Holzmann, vorn allen nur Lolle genannt, die ihrer großen Liebe Tom nach Berlin gefolgt ist und dort allerhand Abenteuer erlebt, hatten es vor allem der zehnjährigen Tochter der Künstlerin angetan. Ihre Begeisterung für Lolle sorgte dafür, dass sich die Familie Rudolph einmal die Woche geschlossen vor dem Fernsehschirm versammelte. Daran musste die Künstlerin denken, als sie in den Jahren 2020 und 2021 bei wiederholten Aufenthalten in Berlin künstlerisch arbeitete und ihrerseits die deutsche Hauptstadt entdeckte. Was sie in dieser Zeit sah, dachte und erlebte, hat sie in ebenso persönlichen wie überpersönlich wichtigen Werken festgehalten. Sie verbleiben nicht in den engen Grenzen idiosynkratischer Wahrnehmung, sondern zeigen die Stadt in panoramatischer Weite. Dabei nimmt Kathrina Rudolph politische, wirtschaftliche und kulturelle Phänomene in den Blick und denkt zugleich über Berlins Geschichte wie über seine Gegenwart und Zukunft nach.
 
Ihre Beobachtungen und Reflexionen materialisiert die Künstlerin in neuen Werken, bei denen sie auf die Dispositive des Pop-up-Buches und der Collage zurückgreift. Sie führt sie in einer Weise zusammen, wie man das in der Bildenden Kunst bisher noch nicht gesehen hat. Das Pop-up-Buch oder auch Aufklapp-Bilderbuch kennt man schon seit Mitte des 19ten Jahrhunderts. Solche Bücher funktionieren wie Guckkastenbühnen, um dem narrativen Geschehen der Literatur das Äquivalent einer visuellen Verlebendigung in der dritten Dimension zu schenken. In dieser Form sind sie bisher stets dem Buch vorbehalten geblieben. Die Collage dagegen steht ganz und gar im Zeichen der Moderne der bildenden Kunst. Nicht von ungefähr erfuhr sie eine frühe Blütezeit mitten im Ersten Weltkrieg in den Gestaltungen der Dadaisten und denen des hannoverschen Merz-Künstlers Kurt Schwitters. Auf den Schlachtfeldern dieses mit barbarischen Mitteln geführten Krieges sind nicht nur Granaten und Geschosse explodiert. Sondern dort zerrissen auch traditionelle Wertvorstellungen und alte Glaubensgewissheiten. Das Ergebnis dieser epochalen Zerrüttung hielt der britische Nobelpreisträger für Literatur, T. S Eliot, in lakonischer Manier in seinem zwischen den beiden Weltkriegen geschriebenen Jahrhundertepos „The Waste Land“ fest, als er dichtete, was wir heute in Händen hielten, sei „just a heap of broken images“. Nur noch ein Haufen zerbrochener Bilder.
 
Diese Bildscherben versucht die Collage – vom französischen „coller“ für kleben – in neuer Weise zusammenzufügen. Dabei ändert sich ihre Erzählweise. Sie verfährt nicht mehr linear, sondern polyperspektivisch, nicht mehr holistisch, sondern fragmenthaft. Was sich an den Collagen Kathrina Rudolphs beispielhaft ablesen lässt. Für sie seziert die Künstlerin Bilder und zerlegt Menschen, Objekte und Architekturen, um sie anders zu konfigurieren und ihnen neues Leben einzuhauchen. Erzählen sie dann ihre Geschichte, fordern sie unsere Sehgewohnheiten in der Manier von Bertolt Brecht heraus. Als der 1922 in München an den Kammerspielen sein erstes Stück „Trommeln in der Nacht“ herausbrachte, las das Publikum an den Wänden die Aufforderung: „Glotzt nicht so romantisch!“ Es sollte mitdenken! Den Impetus verstärkt Rudolph, indem sie ihre Collagen in theatraler Weise in die Vertikale erhebt, sodass wir mit unseren Augen in ihren Bildbühnen spazieren gehen können. Das Material für sie hat Kathrina Rudolph dem Bildfundus der Stadt entnommen. Es sind Flyer und Einladungskarten, die sie in den Museen, Kunstinstituten und Theatern der Stadt gefunden hat. Aber sie nutzt auch Stadtpläne und Orientierungshilfen, die Werbung von Bars und Restaurants, Hinweise auf Tanz und Sportveranstaltungen sowie Empfehlungen, die Gefahren des Rauchens nicht geringzuschätzen, oder seine Stimme einer bestimmten politischen Partei zu geben. Damit lässt sie sich zu ihrer Kunst wie früher schon, als sie sich von Fotos der Süddeutschen Zeitung zu Zeichnungen und Gemälden anregen ließ, von found footage inspirieren.
 
Die Konstruktion der Pop-up-Collage, die wie die Werkserie den Titel „Berlin, Berlin“ trägt, wird im Wesentlichen durch verschiedene Flyer von Aufführungen des Deutschen Theaters in Berlin getragen. Rudolphs Bildbühne, auf denen sich das Personal bewegt, und der Hintergrund der von ihr gebauten Szene bestehen aus einer gerasterten Architektur aus Stahl und Glas, die auch in einer der Inszenierungen des Theaters auftaucht. Nicht anders die vielen Protagonisten, die sich zu einer bunten Menge an Menschen verbinden, wie sie auch für die Straßen der Hauptstadt typisch sind. Sie erinnern an die ersten Zeilen eines berühmten Monologs aus William Shakespeares Stück „As You Like It“, gesprochen von Jacques, der uns mitnimmt auf eine Reise durch den gesamten Lebenszyklus des Menschen: „Die ganze Welt ist eine Bühne, und alle Männer und Frauen sind nur Spieler.“ Dabei wird im Zentrum des Werks von Rudolph unser Blick auf ein Mannequin gelenkt, das mit Hut und High Heels, Penis und Brüsten ebenso sehr Mann wie Frau ist und in dieser Weise wie das Memorial eines zeitgenössischen Toleranzedikts wirkt, das für Berlin typischer nicht sein könnte. Darum herum Personal aus verschiedenen Inszenierungen, darunter „Die Blechtrommel“ und „Die Pest“, die die Künstlerin als Zuschauerin gesehen hat. Beide Aufführungen sind Dramatisierungen von Büchern, in diesem Fall von Günther Grass und Albert Camus, wie sie  auf deutschen Bühnen gegenwärtig sehr beliebt sind. Dazu gehört auch auf der linken Seite des Werks der fragmentierte Hinweis auf das Buch „Franziska Linkerhand“ von Brigitte Reimann, das ebenfalls vom Deutschen Theater dramatisiert und auf die Bühne gebracht wurde.
 
Bei dem eindrucksvollen und berührenden Werk handelt es sich um einen unvollendeten Roman, an dem Reimann zehn Jahre lang schrieb und der 1974 postum in Ost-Berlin erschien. Er schildert die Träume der jungen Architektin Franziska Linkerhand in der DDR der 1960er Jahre, die an der trostlosen Realität ihres Landes zerbrechen. Der Roman erzählt aber nicht nur von den Widrigkeiten des beruflichen und sozialen Alltags seiner Protagonistin, sondern in Rückblicken auch, wie sie ihren Vater als überzeugten Nationalsozialisten erlebt hat und vom Einmarsch der roten Armee im Mai 1945. Die Lektüre des Buches hat bei Rudolph Erinnerungen an die eigene Familiengeschichte geweckt. Das veranlasste sie, sich noch stärker mit dem Nationalsozialismus und der jüngeren deutschen Geschichte auseinanderzusetzen, was in weiteren Pop-ups sichtbar wird. Vor allem in einem Szenario, das sie dem Deutsch-Russischen Museum in Berlin-Karlshorst gewidmet hat. Ein Ort von weltgeschichtlicher Bedeutung, in dem die Oberbefehlshaber der Wehrmacht in der Nacht vom 8. zum 9. Mai 1945 vor Vertretern der Sowjetunion, der USA, Großbritanniens und Frankreichs die bedingungslose Kapitulation Deutschlands unterzeichneten. Der Saal, in dem die Unterzeichnung stattfand, ist bis heute erhalten geblieben. Er bildet das Herzstück des Museums. Die Bildfragmente, die Rudoph ihrer Pop-up-Collage eingefügt hat, lassen wie Blitzlichter Episoden aus dem Eroberungs- und Vernichtungskrieg aufscheinen, den Hitler gegen die Sowjetunion geführt hat. Sie formieren sich zu einem schwarzweißen Tableau des Grauens mit Zerstörung und Ruinen, Elend und Hunger, Gefangenschaft und Zwangsarbeit, das in zwingender Weise nur einen Schluss zulässt: Ein kategorisches „Nie wieder“.
 
Erinnerungsarbeit leistet die Künstlerin auch, wenn sie in Berlin geschichtsträchtige Orte aufsucht wie das Dokumentationszentrum „Topographie des Terrors“, wo sich während des „Dritten Reichs“ die Zentralen der Geheimen Staatspolizei, der SS und des Reichssicherheitshauptamtes befanden. Oder das „Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit“, das als einziges seiner Art in Deutschland die Lebenssituation der Zwangsarbeiter in der Zeit des Nationalsozialismus darstellt oder auch die „Gedenkstätte Deutscher Widerstand“ im Bendlerblock, welche die Erinnerung an die zum Hitlersturz entschlossenen Offiziere wachhält. All diese Eindrucke und Erfahrungen bündelt wie unter einem Brennglas das große Pop-up-Tableau „Erinnerung sprich“, in dessen Zentrum ebenfalls eine Ausstellung und eine Lektüreerfahrung Rudolphs stehen. Die Künstlerin nutzte dafür die Schau „Arbeit am Gedächtnis – Transforming Archives“ in der Berliner Akademie der Künste. An der Spitze ihrer pyramidal geformten Pop-up-Collage findet sich das Porträt des Schriftstellers Uwe Timm. In einer autobiografischen Erzählung hat er sich an seinen sechzehn Jahre älteren Bruder erinnert, der als Mitglied der Waffen-SS am Zweiten Weltkrieg teilnahm, verwundet wurde und starb. Was von ihm aus dem Krieg zurückkam, bildet der Pappkarton am Fuß der Collage ab: ein Eisernes Kreuz, ein Kugelschreiber, ein Medaillon mit Hakenkreuz, ein Kamm und eine Tube Zahnpasta. Darüber hinaus hinterließ er ein Tagebuch, das er an der Ostfront führte, obwohl es streng verboten war. Es wird neben einem Bündel von der Familie aufbewahrter Feldpostbriefe für den Schriftsteller zum Ausgangspunkt, um sich mit dem Tod seines Bruders auseinanderzusetzen, dabei nach der Rolle des Vaters zu fragen und nach der generellen Verarbeitung der NS-Vergangenheit in der Nachkriegszeit.
 
„Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen.“ Die Ausstellung in der Akademie der Künste zitierte ohne Zuschreibung zwei Sätze aus einem berühmten Buch von William Faulkner: „The past is never dead. It’s not even past.” Womit der Schriftsteller seinerzeit die passende Formel für das Fortbestehen historischer Erinnerung und rassistischer Ressentiments in den USA fand. Ähnlich sieht es in Deutschland mit der Geschichte des Nationalsozialismus aus. Aber die Vergangenheit spricht nicht aus sich heraus. Sie ist weder klar noch eindeutig. Sie muss befragt und hinterfragt werden. Und dazu liefern die Pop-Up-Collagen von Kathrina Rudolph in ihren historischen Dimensionen einen wertvollen Beitrag. Auch weil sie es in einer Weise tun, wie Ernst Bloch sich das Erinnern gewünscht hat: „Nur jenes Erinnern ist fruchtbar, das zugleich an das erinnert, was noch zu tun ist.“ Im Dienste dieses Erinnerns bildet Rudolphs Werk eine Porträtreihe ab, bei der jede und jeder, die ihr angehören, in denkwürdiger Weise an diesem dramatischen Kapitel deutscher Geschichte mitgeschrieben und mitgewirkt haben.  Auf Uwe Timm folgt Walter Benjamin, Philosoph, Kulturkritiker und Proust-Übersetzer, der sich in zarten, einfühlsamen Skizzen an seine Berliner Kindheit erinnert hat und der von den Nationalsozialisten  in den Selbstmord getrieben wurde.  Neben ihm Bertolt Brecht, der mit der „Dreigroschenoper“, uraufgeführt in Berlin, das Musiktheater revolutionierte und im Exil mit Theaterstücken und Gedichten gegen Hitler kämpfte. Zwei weitere Dichter, Thomas Mann und Anna Seghers, die ebenfalls ins Exil gingen und von da aus den „Führer“ angriffen, sehen wir im Gespräch miteinander. Nicht weit entfernt von ihnen Ursula Mamlock. die jüdische Komponistin, die die Schrecken der Reichpogromnacht in Töne gesetzt hat. Und in ihrer Nachbarschaft, die Bildhauerin Käthe Kollwitz, die schon mit dem Aufruf „Nie wieder Krieg“ gegen den Ersten Weltkrieg mobil machte.
 
Auf seinen Roman „Die Wahlverwandtschaften“ war Goethe besonders stolz. Sei es ihm doch gelungen, in ihm in vollendeter Weise „eine Idee darzustellen“. Indes in nicht leicht „kommensurabler“ Weise. In dem Buch stecke mehr, so Goethe im Gespräch mit Eckermann im Februar 1829, als irgendjemand bei einmaligem Lesen in der Lage wäre aufzunehmen. Nicht anders verhält es sich mit den Pop-up-Collagen von Kathrina Rudolph. Auch sie folgen regelmäßig einer idée directrice, die sich hinter einer Unmenge von Bildmaterial versteckt und die es vom Betrachter zu entfalten gilt. So auch in ihren zwei Werken zum Bode-Museum. Das im Stil des Neobarock in den Jahren von 1898 bis 1902 im Auftrag Wilhelm II auf der Berliner Museumsinsel errichtete Gebäude ist berühmt für seine Skulpturensammlung. Rudolphs Collage prononciert diesen Sammlungsaspekt durch ausgewählte Beispiele. Darunter, um 1645 von Leonard Kern aus Elfenbein geschaffen, in antikisierender Muskelhaftigkeit die Rückenansicht einer Figurengruppe, die Adam und Eva zeigt. Während sie ihm den Apfel der Verführung reicht, streichelt er mit der linken Hand einen neben ihm hockenden Jagdhund. Auf derselben Ebene hat Rudolph Besucher aus der Jetztzeit oder der jüngeren Vergangenheit angesiedelt. Eine Frau im weißen Courrèges-Kleid und ein junges Paar. Wenn die Künstlerin eine schwangere Frau aus der Gegenwart in Nachbarschaft zu einer Pietà aus der Renaissance zeigt, wird deutlich, wie sehr ihr dabei an einer vergleichenden Ikonografie gelegen ist.
 
Bei einer weiteren Ansicht des Bode-Museum mit dem Hinweis auf fair share wird dieser zeitgenössische Aspekt von Kathrina Rudolph noch stärker betont. Nicht nur durch den Titel ihres Werks, sondern auch durch das Emblem der genannten Gruppe, das auf rotem Grund unübersehbar aus dem Bildensemble hervorleuchtet. Es handelt sich bei ihr um eine Vereinigung von Aktivistinnen, die sich zum Ziel gesetzt haben, bis spätestens 2030 in Deutschland einen „fairen Anteil“ von Frauen in Führungspositionen zu bringen, in denen sie heute noch unterrepräsentiert sind. Dazu gehört auch, für eine stärkere Sichtbarkeit von Künstlerinnen in  den Museen zu sorgen, in denen es immer noch deutlich weniger Werke von Frauen als von Männern zu sehen gibt. In Anlehnung an den Kampf der Farbigen um Gleichberechtigung mit dem schönen Motto: „Say It loud, I am black and I am proud!“, kämpfen auch die Aktivistinnen und Künstlerinnen in Berlin lautstark für ihre Sache. Darauf verweist die jungen Frau mit dem Megaphon am linken Bildrand. Wortfetzen ihrer Rede legen sich über eine Skulptur aus dem Bode-Museum. Diese Demonstration um mehr Repräsentanz und Sichtbarkeit der Werke von Künstlerinnen hat es tatsächlich gegeben. Sie fand am 08. März dieses Jahres vor der Alten Nationalgalerie in Berlin statt. Am letzten Tag einer Sonderausstellung, in der Werke von 43 Künstlerinnen aus der Sammlung gezeigt wurden, von denen im Schaubestand indes bisher lediglich fünf Werke zu sehen waren. Die Demonstration hat in Deutschland einen Kampf fortgesetzt, den die Guerilla Girls in den USA schon in den 1980er Jahren anfingen. Mit der provozierenden Frage, ob Frauen nur ins Museum kommen, wenn sie nackt sind? In Rudolphs Werk gibt die Skulptur einer der Anführerinnen der Berliner Aktivistinnen, „Verlorene Leere“ von Rachel Kohn, die Antwort darauf. Symbolisch ist sie bereits ins Bode-Museum gewandert.
 
Eine Hommage an das alte Berlin und an den großen Chronisten der preußischen Ständegesellschaft stellt Rudolphs Pop-up-Collage dar, die sie dem Roman „Stine“ (1890) von Theodor Fontane gewidmet hat. Stine ist die Kurzform von Ernestine, die der Dichter zur Protagonistin seines Buches gemacht hat. Wie schon Lene in „Irrungen, Wirrungen (1898) können beide, da von niederem sozialem Stand, ihre Liebe zu ihren, aus dem Adel stammenden Partnern nicht leben. Rudolphs Werk hat zur Bühne einen Berliner Stadtplan, in dem die Invalidenstraße eingezeichnet ist, wo Stine wohnte, was einer gesellschaftlichen Charakterisierung gleichkam. Die Fotodokumente, die Rudolph für ihre eindrucksvolles Collage verwandt hat, stammen in diesem Fall nicht aus Flyern, sondern aus zwei Büchern, von denen das eine die Zeit Fontanes in den Jahren 1850-1890 in den Blick nimmt, während das andere Theateraufführungen im Osten Deutschlands nach 1945 beschreibt und illustriert. Gleichfalls eine Hommage an Berlin, indes aus dem Geist der Gegenwart, stellt Rudolphs Werk „Ich bin aus Mitte“ dar. Was auch sein Titel deutlich macht, der sich in Versalien über die Straßen und Häuser der Stadt legt, die aus der Draufsicht in ihren Umrissen dargestellt werden, als habe Google Earth sie ins Visier genommen: Es handelt sich hier wie in Fontanes Roman nicht um das ganze Berlin, sondern um einen bestimmten Stadtteil, der nach der Wende durch Zuzug aus dem Westen und entsprechende ökonomische Investitionen bekannt geworden ist. Wie sehr er für Pluralität steht, macht das Porträt einer Versammlung diverser Menschen deutlich. Aber auch der Hedonismus, den man dort angeblich kultiviert hat, wird von Kathrina Rudolph nachdrücklich visualisiert: Durch den „Hoppla, jetzt komm ich“-Typen oben im Bild, die Kugel mit den vielen Fenstern, die gleichermaßen an Disco und Fernsehturm erinnert sowie den Automaten, der mit „2 Stunden Lachen“ viel Amüsement verspricht.
 
Die Atmosphäre des easy going und easy living rückt die Künstlerin formal und farblich unübersehbar ins Bild. Wie überhaupt ihre Pop-up-Werke sich durch ihre intensive formale Durcharbeitung auszeichnen. In Schlaglichtern wird das im Blick auf weitere Werke deutlich. Bei der Zusammenstellung ihrer Bilder für das „Deutsche Theater“ operiert Kathrina Rudolph gelingend im Geist des Surrealismus. Vor allem, wenn sie ein extrem vergrößertes Bein sich aus einer Badewanne strecken lässt, in deren dunklem Wasser allerlei Blumen und Blüten schwimmen. In „Modell Berlin“ überzeugt sie durch die Akkumulation verschiedener Schriften und Texte, die sie dynamisch über einen Stadtplan der Hauptstadt legt. Wobei die unterschiedlichen Textzeilen in metonymischer Manier die Vielfalt der Stadt visualisieren. In „Offen Bleiben“ dagegen, auch dieser Titel wurde von einem Theater-Flyer inspiriert, setzt sie lediglich zwei unterschiedliche Stadtpläne zueinander in Beziehung. Die Pop-up-Collage beeindruckt durch ihre minimalistische Beschränkung. Doch das Werk wirkt zugleich auch so, als wolle es durch seine Kniffe und Faltungen genau diesen geometrischen Minimalismus zum Tanzen bringen. Überhaupt imponiert Kathrin Rudolph durch ihre Fähigkeit mit Kontrasten und Gegensätzen in ihren Werken Spannung zu erzeugen. Sie spielen sich nicht allein auf der semantischen Ebene ab, wenn sie immer wieder die Geschichte und Gegenwart zueinander in Beziehung setzt, damit wir daraus für die Zukunft lernen. Sondern auch auf der formalen Ebene in der Konfrontation von farbigen und schwarzweißen Bildern und von Kollisionen, in denen das Große und Kleine, Nah und Ferne, Leichte und Schwere, Feine und Grobe, Groteske und Realistische zu überzeugender Einheit und in Balance gelangen. Was nicht nur in formaler Hinsicht überzeugt, sondern auch inhaltlich eine schöne humanistische Lehre ist.